Tapisserie "Leve toi et va vers le midi" - image-1

Lot 965 Dα

Tapisserie "Leve toi et va vers le midi"

Auktion 1152 - Übersicht Köln
29.05.2020, 14:00 - Kunstgewerbe
Schätzpreis: 20.000 € - 30.000 €

Tapisserie "Leve toi et va vers le midi"

Wirkerei aus Wolle und Seide, mit Leinen hinterfangen. Von oben links nach unten rechts zu lesende Anordnung von Szenen mit Spruchbändern in einer Etagenlandschaft mit vielen Details. Rechts oben spricht der Engel des Herrn mit Philippus: "LEVE TOI ET ...MIDI". Weiter rechts Philippus mit dem Engel des Herrn: "APPROCHE ET TADIOINS A CE CHARIOT". Ein nach links fahrender Wagen, gezogen von drei Pferden, mit Lenker und zwei weiteren Assistenzfiguren, darin sitzend ein Mann, den Finger hebend: "COMMENT LE P...SI AVCVNNE ME LE MONSTRE". Derselbe Wagen größer im Vordergrund, jetzt nach rechts gezogen, darin Philippus und der Orientale. Dieser mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien, auf einen Schriftzug weisend: "IL FVT MENE COME LA BREBIS A OCCIS IONA". Am rechten Rand die Taufszene an einem Fluss. Auffällige, detailreiche Groteskenbordüre. Der linke Bordürenstreifen später angefügt. Reparaturen über Insektenschäden, vor allem im unteren Bereich, vier Spruchbänder vakant ersetzt. H 375, B 344 cm.
Brüssel, zugeschrieben, zweite Hälfte 16. Jh.

Der in Paris geborene Drucker und Verleger Robert Estienne (1499 oder 1503 - 1559) publizierte 1552 die wohl erste lateinisch-französische Ausgabe des Neuen Testaments. In dieser Ausgabe lassen sich die französischen Zitate der Tapisserie finden, nämlich in der Apostelgeschichte 8, die Mission in Samarien. In der modernen Einheitsübersetzung in Deutsch liest sich diese Geschichte wie folgt:

"Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist. 27 Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, ihr Schatzmeister, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. 28 Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. 29 Der Geist aber sprach zu Philippus: Geh hin und halte dich zu diesem Wagen! 30 Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest? 31 Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. 32 Die Stelle aber der Schrift, die er las, war diese (Jesaja 53,7-8): »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. 33 In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.« 34 Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem? 35 Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Schriftwort an und predigte ihm das Evangelium von Jesus. 36-37 Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert's, dass ich mich taufen lasse? 38 Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn. 39 Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; er zog aber seine Straße fröhlich. 40 Philippus aber fand sich in Aschdod wieder und zog umher und predigte in allen Städten das Evangelium, bis er nach Cäsarea kam."

Der Auftraggeber der Tapisserie verlangte ein konservatives Sujet, das auf sehr subtile Weise, nämlich durch die französischen Spruchbanderolen, in einen modernen Kontext gerückt wird. Die Darstellung an sich als Etagenlandschaft mit in Leserichtung fortlaufend wiederholten Figuren entspricht einem narrativen mittelalterlich Bildprogramm. Das intellektuelle, neu interpretierte Thema wird gerahmt von einem nicht minder anspruchsvollen Bordürenprogramm, das sich auf die neuesten Druckgrafiken aus Italien, aus dem Umkreis und der Nachfolge Raffaels bezieht. Spätestens ab den 1540er Jahren haben die Brüsseler Weber Vorlagen von Pietro Buonaccorsi (1501 - 1547) umgesetzt, wie die Tapisseriefolge der Grotesken mit den Göttern belegt. Buonaccorsi war als Schüler Raffaels an der Gestaltung der Stanzen beteiligt. Ab 1515 produzierte die Brügger Manufaktur des Pieter van Aelst III. (um 1495 - um 1560) im Auftrag von Papst Leo X. die Tapisserien nach den Kartons von Raffael für die Sixtinische Kapelle. Nicht nur Pieter van Aelst brachte die neuen Grotesken-Dekore mit nach Brüssel, wo sie auch zur Rahmung anderer Themen eingesetzt wurden. Eine mögliche weitere Quelle wäre das "Livre de Moresques", das um 1543 erstmals von Cornelis Bos (1506/10 - 1555) veröffentlicht wurde. Jérôme de Gourmont publizierte ein erneute Auflage 1546 in Paris. In diesen Ausgaben finden sich sehr ähnliche Motive wie in der Bordüre der Tapisserie, Halbfiguren, gefangen in Bandelwerk, Maskarons, Voluten und Draperien. Auch Hans Vredemann de Vries (1527 - 1604) verband in seinen ab 1555 verbreiteten Stichen reale und imaginäre Elemente in einer symmetrischen Anordnung. Es gab also eine Fülle von neuen Anregungen für die Gestaltung der schmalen Randbereiche der Tapisserien, für die sich vor allem gereihte Ornamente anboten. Die Antwerpener Keramiker, die Majolika produzierten, begannen zur selben Zeit, ihre Tableaus in gleicher Weise zu rahmen. Im flämischen Ornamentkanon entwickelte sich sukzessive die Wandlung zur Renaissance, zu modernen und auch revolutionären Motiven, mit denen Besteller wie Entwerfer Bildung und Weltgewandtheit demonstrieren konnten.

Provenienz

Deutscher Kunsthandel.
Österreichischer Privatbesitz.

Literaturhinweise

Vgl. die Brüssel, dem Meister der geometrischen Marke, zugeschriebene Tapisserie in der Sammlung des Rijksmuseum, die aus einer größeren Groteskenfolge (mit Göttern) stammt, die für die Ausstattung des Genueser Palastes von Andrea Doria vorgesehen war (Inv. BK-1959-83, bei Hartkampt-Jonxis/Smit, European Tapestries in the Rijksmuseum, Amsterdam 2004, Nr. 22).
Zu den Grotesken s. Göbel, Wandteppiche, Teil I, Bd. II, Leipzig 1923, Abb. 416.
Zur zeitgleichen Majolikaproduktion s. Dumortier, Céramique de la Renaissance à Anvers, Brüssel 2002, Cat. 14 ff. und Cat. 57 bzw. Lahaussois, Delft - Faience, Paris 200, fig. 6, S. 28.