Schwarzaquarell, Tusche laviert, auf dünnem gerippten Büttenpapier 21,8 x 27,8 cm. Unten links mit Tusche signiert und datiert 'Nolde 08'. - In schöner Erhaltung; entlang der Kanten gebräunt mit schmalem Lichtrand. Rückseitige Verklebungen fachmännisch entfernt, alte Einrisse in den oberen Ecken geschlossen.
Die lesende Frau ist seit der Antike ein beliebtes Motiv der bildenden Kunst. In früheren Jahrhunderten wohnte diesen Darstellungen eine nicht unerhebliche Brisanz inne, denn das Lesen galt als männliche Domäne und konnte Inhalte vermitteln, von denen Frauen tunlichst fern gehalten wurden. Mit der zunehmenden Liberalisierung des Lesens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert wurde der Anblick einer lesenden Frau selbstverständlich. Weiblichen Lesern stand nun mehr und mehr die Möglichkeit offen, sich durch diverse Lektüren ihr eigenes Bild von der Welt zu machen.
Die Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts sind bei ihren Darstellungen lesender Frauen wohl besonders von den künstlerischen Möglichkeiten angetan, die das Motiv bietet: Porträt und Interieur, aber auch intime Aktszenen lassen sich in dem Bildnis einer an einem ruhigen Rückzugsort in ihre Lektüre vertieften Frau miteinander verbinden und mit der konzentrierten und weltabgewandten Atmosphäre aufladen, die von der Tätigkeit des Lesens ausgeht.
Emil Nolde verdichtet in unserem schönen kleinen Blatt das Motiv auf die in ihr Buch versunkene Frau, die Interieursituation bleibt bis auf die angedeutete Liegestatt undefiniert. Die schnell gesetzten, präzisen Pinselstriche, mit denen er die halb aufgerichtet lagernde Frau erfasst, machen Noldes zeichnerische Meisterschaft offenkundig. Die dunkle Lavierung des Umraums, die die Figur weich umspielt, hebt die hellen Flächen von Kleid und geöffnetem Buch noch besonders hervor.
Provenienz
Galerie Nierendorf (alter Rahmungsaufkleber "Nierendorf Gallery, New York"); ehemals Sammlung Josef Haubrich, Köln; Privatbesitz Südamerika